
Der ständige Drang nach Perfektion: Ein Erfahrungsbericht
Perfektionismus bedeutet, in allem, was du tust, nach Perfektion zu streben. Oft ist das gekennzeichnet durch hohe Standards, starkes Fokussieren auf Fehler und einen ständigen Drang, Dinge makellos zu erledigen. Menschen, die perfektionistisch sind, setzen sich oft enorm unter Druck, um bestimmten Standards zu entsprechen, selbst wenn diese unrealistisch sind. Das kann sowohl positive als auch negative Seiten haben. Einerseits kann das zu grossen Leistungen und einer Achtung für Details führen, andererseits jedoch auch zu Stress, Angst, Aufschieben und sogar zum Meiden von Herausforderungen aus Angst zu versagen.
Verschiedene Facetten des Perfektionismus
Perfektionismus kann sich auf verschiedene Arten zeigen. Manche Leute streben nach Perfektion in ihrer Arbeit oder akademischen Leistungen, während andere in persönlichen Beziehungen, im Aussehen oder sogar in Hobbys und Freizeitaktivitäten Perfektion anstreben.
Man kann Perfektionismus in zwei Haupttypen unterteilen:
1.Adaptiver Perfektionismus: Das ist eine gesündere Form, in der hohe Standards Hand in Hand gehen mit der Akzeptanz von Fehlern und der Bereitschaft, aus Misserfolgen zu lernen. Es geht darum, nach Exzellenz zu streben, ohne den persönlichen Wert an die Erreichung dieser Perfektion zu binden.
2.Maladaptiver Perfektionismus: Das ist eine problematischere Form, wobei der Drang nach Perfektion erstickend sein kann. Das kann zu Angst, obsessivem Verhalten, Aufschieben und zum Vermeiden von Aufgaben, aus Angst zu versagen, führen.
Oft tendieren Perfektionisten dazu, ihren eigenen Wert an ihre Leistungen zu knüpfen, was zu einem ständigen Gefühl der Unzufriedenheit führen kann, selbst nach dem Erreichen grosser Erfolge. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Perfektionisten Angst haben, Kritik zu erhalten, wodurch sie manchmal Schwierigkeiten beim Zusammenarbeiten oder bei der Annahme von Rückmeldungen haben.
Auch wenn das Streben nach Qualität bewundernswert ist, kann zu viel Perfektionismus letztendlich schädlich sein für jemandes Wohlbefinden und seine Beziehungen. Sich realistische Ziele zu setzen, Selbstmitgefühl zu pflegen und Fehler als einen natürlichen Teil des Wachsens und Entwickelns anzunehmen, kann helfen, die negativen Aspekte des Perfektionismus zu verringern.


Ein Leben unter Perfektionismus
Ich fühlte mich selber nie von Perfektionismus betroffen. Meine Schulnoten waren alles andere als “perfekt”, ich beendete Projekte auf halber Strecke, in meinem Zimmer herrschte ein Chaos, meine Schulunterlagen waren zerknittert, nur halb ausgefüllt oder voller Flüchtigkeitsfehler und überhaupt waren mir meine Leistungen zu Schulzeiten ziemlich egal!
Von allen Seiten wurde mir gepredigt, dass ich mein Potenzial nicht ausschöpfen würde. Dass, wenn ich mich nur mehr bemühen, konzentrieren, anstrengen oder zusammenreissen würde, meine Leistungen bedeutend besser wären.
Sowohl meine Lehrer, als auch meine Eltern waren davon überzeugt: Joëlle leistet nur genau das bare Minimum, das man von ihr verlangt.
Und auch wenn sie damit objektiv betrachtet vielleicht nicht unrecht hatten, war es nicht die ganze Wahrheit.
Ich erbrachte Tag für Tag Spitzenleistungen! Leider alle in Bereichen, die niemand sehen konnte.
Spitzenleistungen im:
- Stillsitzen, obwohl alles in meinem Körper nach Bewegung schrie
- Zum wiederholten mal zuhören, obwohl ich das Thema schon beim ersten Mal verstanden hatte
- Immer wieder fokussieren, obwohl es hunderte Ablenkungen gab
- In der Schule bleiben, obwohl ich nur raus wollte
- Auf Aufgabenblätter starren, obwohl mich die weissen Blätter immer blendeten
- Keine anderen Kinder ablenken, obwohl es mir selber stink langweilig war
- Nicht einschlafen, obwohl ich todmüde war
- Nicht auffallen
- Früh aufstehen, obwohl ich nie vor Mitternacht einschlafen konnte
- Anpassen
- Freundliche bleiben, obwohl ich vor Wut hätte platzen können
Die Schulzeit war unendlich anstrengend für mich. Auch wenn es von Aussen wohl kaum so wirkte. Ich war die Erste, die aus dem Klassenzimmer rannte, ich war ständig im Freibad anzutreffen und meine Hausaufgaben machte ich meistens entweder bereits während dem Unterricht, oder dann aber in den 5min. bevor sie korrigiert werden sollten. Mich interessierten 1000 Dinge und die wenigsten davon wurden in der Schule behandelt.
Die permanente Predigt von: Ich müsste mich nur mehr anstrengen, mehr bemühen oder mich endlich mal zusammenreissen hatten nicht den gewünschten Effekt.
Das was ich aus all diesen Vorwürfen lernte war:
- Ich bin nicht gut genug
- Meine Anstrengungen genügen nicht
- Wer Erfolg haben will, muss sich über seine Grenzen hinaus verausgaben
- Mir mangelt es an Willenskraft, Disziplin und Intresse
- Um geliebt zu werden, müsste ich perfekt sein
- Wie es mir geht ist völlig egal, Hauptsache meine Leistungen sind gut

Ich tat alles, was in meiner Macht stand, um den Anforderungen gerecht zu werden, aber es schien nichts davon zu helfen.
Zwar erkannte ich irgendwann, dass Aufwand und Ertrag im Schulkontext sich nicht lohnen und resignierte irgendwo auf halber Strecke, aber da war die typische Grundlage für Perfektionismus bereits gelegt.
Ich war 23, als ich das erste Mal für mehrere Monate krankgeschrieben wurde, mit der Diagnose: Erschöpfungsdepressionen – Burnout.
Die Ursachen für eben diese Erschöpfungen waren mir zu dieser Zeit ein ziemliches Rätsel. Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr gut erinnern, aber ich weiss noch, dass Perfektionismus irgendwo mal zur Sprache kam. Heute – knapp 10 Jahre später – habe ich eine recht gute Vorstellung davon, warum ich bereits so jung, so unendlich erschöpft war. Und Perfektionismus war bestimmt ein Teil davon.
Aber 2014 war ich, meiner Auffassung nach, so weit von Perfektionismus entfernt, wie man es nur sein konnte! Schliesslich hörte ich meine ganze Bildungskarriere, wie unsorgfältig, schludrig, unpünktlich oder unmotiviert ich meine Aufgaben erledigte. Wie viel Potenzial ich verschwendete und dass ich mich doch endlich mal bemühen sollte. Kurzum: Wie viel besser ich doch eigentlich sein könnte und wie weit weg ich von den Erwartungen läge.
Dass Perfektionismus nicht unbedingt in perfekten Ergebnissen mündet, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar!
Heute weiss ich: Ich neige zu Perfektionismus – auch wenn das vielleicht nicht unbedingt sichtbar ist. Aber Perfektionismus ist mehr als “immer gute Arbeit leisten”.
Perfektionismus ist in meinen Augen eher:
- Der Drang, ständig nach besseren Leistungen zu streben. Und das, leider oft, zum Preis der eigenen Gesundheit.
- Das ständige Gefühl, man hätte es eigentlich besser machen können.
- Der Glaube, man hätte die eigenen Fehler definitiv vermeiden können.
- Dinge nicht zu machen, weil man sie perfekt machen möchte, dazu aber keine Kraft hat und sie dann lieber garnicht macht.
- Mit den eigenen Leistungen nie so ganz zufrieden zu sein
- Das “Grosse Ganze” aus den Augen zu verlieren, weil alle kleinen Details exakt stimmen müssen
- Vom Urteil oder der Bewertung Anderer abhängig zu sein
- Es immer allen recht machen wollen
Unabhängig davon, welche Symptome erlebt werden, Perfektionismus ist vor allem eines: Anstrengend für die Betroffene Person.
Deshalb gehört für mich persönlich das Thema Perfektionismus immer auch in mein “Energie-Management”. Es hilft mir, mir bewusst zu werden, wo ich durch Perfektionismus unnötig Energie verliere. Um dann in einem weiteren Schritt herauszufinden, wie ich das ändern kann.